Professor Dr. med. Gerald Ulrich

Ärztliches Credo

Ergänzende Texte (KLICK)

Weil die Gebührenordnung für Ärzte alle direkt am Patienten zu erbringenden Leistungen unterbewertet, hat die einst „sprechende Medizin“ weitgehend die Sprache verloren.
Heute steht die apparative Diagnostik im Vordergrund; häufig überflüssig, potentiell schädlich aber lukrativ abzurechnen. Dies geht zu Lasten des Aufbaus einer vertrauensvollen Arzt-Patienten Beziehung. Bereits im Studium erfährt die hohe Kunst der Anamneseerhebung immer weniger Beachtung. Es spielt keine Rolle mehr, dass die Effizienz des diagnostischen Prozesses entscheidend von der Qualität und der Führung durch die Anamnese abhängt. Dies gilt natürlich nur in geringem Maß oder überhaupt nicht für den instrumentell-apparativen Bereich. Es wäre aber verfehlt, den high-Tech- Bereich als repräsentativ für die ärztliche Alltagspraxis zu sehen. In dieser nehmen jene Patienten einen immer größeren Raum ein, die ohne eine tragfähige persönliche Beziehung zu ihrem Arzt nur unzureichend versorgt werden können.
Neben dem großen Heer der Menschen mit chronischen und chronisch-rezidivierenden Leiden ist die gesamte Palette der psychiatrischen Störungen hinzu zu rechnen. Obgleich die Psychiatrie von ihren wissenschaftlichen Anfängen an der Inbegriff einer sprachgebundenen anthropologischen Disziplin war, wurde auch sie vom Tsunami der allgemeinen Sprachlosigkeit überrollt. Wer sich an den einst das Fach Psychiatrie gestaltenden großen Arztforscher-Persönlichkeiten orientierend, um eine dem Individuum gerecht werdende psychopathologische Analyse bemüht, wird bestenfalls nur müde belächelt. Andererseits wird jeder Insider einräumen müssen, dass die Psychiatrie das einzige medizinische Fach ist, in dem in den vergangenen 30 Jahren wirkliche Fortschritte nicht erzielt worden sind - weder auf dem labordiagnostischen noch dem pharmakologischen Sektor!
Wie anders als empört und beleidigt können die Fachrepräsentanten auf eine solche Feststellung reagieren? Es gibt zu denken, dass dies die gleichen, stets die Monstranz einer glorreichen Gegenwart wie auch noch glorreichere Zukunft vor sich her tragende Leute sind, die die Psychiatrie als selbständiges Fach am liebsten abschaffen möchten. An die Stelle des Psychiaters soll der „Clinical Neuroscientist“ oder „Psychopharmacologist“ treten. Damit aber wird der Niedergang der Psychiatrie unausgesprochen eingeräumt. Wer würde schon fordern, ein prosperierendes Fach mit Zukunftsperspektiven aufzugeben?
Das Elend der Psychiatrie besteht darin, dass sich der Arzt (besser gesagt „Mediziner“) kaum noch für die je einmalige Person interessiert, sondern nur noch für möglichst operational definierte diagnostische Gruppierungen. Kennzeichnend dafür sind jene sich als fortschrittlich gerierende Kliniken, in denen man die Patienten bestimmten Modulen zuordnet und voneinander separiert. Demgegenüber gilt unverändert, was u. a. schon Karl Jaspers (1913) vor fast 100 Jahren so ausdrückte:
„Die eindringliche Versenkung in den einzelnen Fall lehrt oft das Allgemeine für zahllose Fälle“.

Auf die „schiefe Bahn“ kam die Psychiatrie allerdings bereits, als sie sich noch um Anerkennung ihrer Wissenschaftlichkeit bemühen musste. So setzte sich seinerzeit innerhalb der Psychiatrie die den allgemeinen Aufschwung der Medizin ermöglichende „kategoriale“ Sichtweise gegenüber der „dimensionalen“ durch. Man bezahlte für die Aufnahme in die medizinische Fakultät mit einem ungedeckten Wechsel auf die Zukunft. Obgleich sich schon bald zeigte, dass in der Psychiatrie im Unterschied zu den anderen Fächern „natürliche Krankheitseinheiten“ weit eher die Ausnahme als die Regel sind, blieb man bis heute beim kategorialen Modell, und dies sogar mit einer über die Zeit hinweg immer größer gewordene Selbstverständlichkeit. Daran vermochte und vermag auch nichts zu ändern, dass sich weisungsgebundene Klinikpsychiater selber, wie auch ihren Patienten, tagtäglich Gewalt antun müssen, wenn sie diese - ihren Dokumentationspflichten nachkommend - in das verordnete Prokrustes-Bett eines bestimmten, ständigen Revisionen unterworfenen Klassifikationssystems oder Moduls zwängen müssen.

Überfällig ist nicht die Abschaffung des Psychiaters zugunsten eines Hirnspezialisten moderner Prägung, sondern – ganz im Gegenteil – die Propagierung einer Sonderstellung der Psychiatrie, die den übrigen medizinischen Fächern als Orientierungspunkt dienen könnte. Während Proktologe, Nephrologe oder Kardiologe sich zu Recht als Spezialisten für bestimmte Organe verstehen dürfen, kann es dem Psychiater nicht erlaubt werden, sich mit einer Sachkompetenz für das Organ „Gehirn“ zu bescheiden.
Das Gehirn steht nicht als ein Organ neben anderen Organen. Es ist dasjenige Organ, das alle übrigen steuert. Es verkörpert die höchste Integrationsstufe in der organismischen Funktionshierarchie. Dadurch wird es zum „Liaisonorgan“, zur Schnittstelle zwischen einem Individuum und seiner Umwelt. Wer sich mit den an das Gehirn gebundenen Leistungen befasst, kann sich daher nicht auf Fragen von Funktionalität oder Dysfunktionalität dieses Organs beschränken. Indem das Gehirn – anders als etwa das Herz – ein Individuum bzw. eine Person und damit dessen permanente Interaktion mit der Umwelt repräsentiert, ist stets die Gesamtheit der von uns unterschiedenen Beschreibungsebenen zu berücksichtigen: die physikalisch-chemische, physiologische, erlebenspsychologische, soziale und kulturelle.

Daher muss der Psychiater ein Generalist sein, ein Arzt, der „aufs Ganze geht“. Praktisch bedeutet diese Kennzeichnung zunächst einmal die Fähigkeit und Bereitschaft zuzuhören, daraufhin relevante Fragen zu formulieren im Bestreben, dem Gespräch eine (vorläufige) erfolgversprechend Richtung zu geben; ferner, zunächst zusammenhanglos im Raum stehende Einzelbefunde aus vollkommen disparaten Beschreibungsbereichen in einen Zusammenhang zu bringen und schließlich in Abstimmung mit dem Kranken das für sein Wohlergehen Notwendige zu veranlassen, handele es sich um eine bestimmte Zusatzdiagnostik, die stets durch eine klar formulierte Fragestellung zu rechtfertigen ist oder um die Einleitung einer Therapie.
Es wäre weltfremd anzunehmen, dass derartige Idealvorstellungen innerhalb der Vorgaben unseres Gesundheitswesens zu realisieren wären.
Nach Jahrzehnten eines ebenso unausweichlichen wie unbefriedigenden Arrangements habe ich mir nach Wegfall ökonomischer Zwänge einen Freiraum schaffen können, um zusammen mit einer überschaubaren Klientel vom Menschen mit psychiatrierelevanter Problematik, die Praktikabilität und Effizienz meiner in 40 Berufsjahren gewachsenen Vorstellungen von Psychiatrie auszuloten.

Ergänzende Texte (Zum Öffnen bitte auf die einzelnen Punkte klicken)

  1. Brauchen wir die Psychiatrie noch als eigenständiges Fach?

  2. Durch Messen verstehen?

  3. Individualmedizin

  4. Psychosomatische Medizin?

  5. Auf dem Weg zu einem neuen wissenschaftlichen Selbstverständnis der Humanmedizin 

  6. Methodologische Anmerkungen zur psycho-physischen Korrelationsforschung

  7. Wissenschaftliche Entdeckungen: Intuition oder Ergebnis systematische Forschung? 

  8. Rudolf Bilz’ Entwurf einer biologischen Psychiatrie auf der Grundlage der Umweltlehre Jakob v. Uexkülls.

  1. Rezension zu G. Ulrich: Biomedizin– die folgenschweren Wandlungen des Biologiebegriffs, Schattauer, Stuttgart (1997),von Klaus Dörner

  2. Rezension zu G. Ulrich: Biomedizin –Die folgenschweren Wandlungen des Biologiebegriffs, Schattauer, Stuttgart (1997), von Hannes Pauli